- Abendland: Seine Entstehung
- Abendland: Seine EntstehungIm Verlauf der Spätantike vollzog sich in Europa ein tief greifender Szenenwechsel: Durch die Völkerwanderung geriet das Römische Reich in Bedrängnis und endete schließlich im Jahre 476 in seinem Westteil mit der Entthronung des letzten Kaisers durch den germanischen Heerführer Odoaker. Lediglich der vorwiegend griechischsprachige Osten mit der Hauptstadt Konstantinopel konnte sich - wenn auch seit dem 7. Jahrhundert zunehmend bedroht durch expandierende islamische Reiche - noch längere Zeit behaupten; von 540 bis 754 besaßen die Byzantiner in Ravenna noch einen westlichen Stützpunkt. Träger der neuen Kultur, der Politik und des Christentums wurden nun vor allem keltische und germanische Stämme, die erst allmählich zu großräumigeren politischen Organisationsformen fanden. Die Zentren des Kontinents verlagerten sich dadurch nach Norden, von den Ländern am Mittelmeer nach Zentral- und Westeuropa.Dieser Raum war dünn besiedelt, die meisten Menschen wohnten in Gehöften oder kleinen Dörfern; eine schlichte Landwirtschaft ohne nennenswerten Geldverkehr prägte das Leben. Städte, oft noch auf römische Gründungen zurückgehend, fand ein Reisender nur selten, die meisten von ihnen erreichten noch über tausend Jahre lang kaum die Größe eines heutigen Dorfes: Die urbane Kultur der Antike wurde abgelöst durch eine agrarisch bestimmte Dorfkultur. Erst im Gefolge der Kreuzzüge nahmen Handel und Geldwirtschaft, Stadtkultur und gesellschaftliche Mobilität seit dem 11. Jahrhundert einen Aufschwung, zunächst in einigen Regionen, wie Oberitalien und Südfrankreich, bald aber in weiten Teilen Europas.Obwohl Kelten und Germanen der Antike weit unterlegen waren, brachten sie doch beachtliche und differenzierte eigene Traditionen in die Kultur des sich bildendenden Mittelalters ein. Dennoch wurde für die neue Epoche die Aneignung der spätantiken Kultur und ihrer Religion, des Christentums, bestimmend. Beide wurden gleichzeitig und in enger Einheit nach Norden vermittelt; hierbei entfaltete die westliche Antike, also die lateinische Kultur und das lateinische Christentum, die größte Prägekraft. Allerdings gab es auch andere Einflüsse: Missioniert wurde das Festland vom 6. Jahrhundert an von Norden her durch iroschottische Missionare. Da deren heimatliche Kirche nicht nur vom latinisierten Gallien, sondern auch vom griechischen Mönchtum beeinflusst war, bildete sich in Irland zunächst ein. Christentum, das sich eher um Klöster als um Bischofssitze gruppierte und auch griechische Einflüsse kannte. Aber schon früh war mit der Taufe des fränkischen - genauer merowingischen - Königs Chlodwig in Reims im Jahre 498/499 für wichtige Regionen eine Entscheidung zum lateinischen. Christentum gefallen. Den Durchbruch brachten spätestens in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts die Orientierung der angelsächsischen Mission an Rom und die Politik der Karolinger, die ihre Legitimität - sie waren ursprünglich keine Könige, sondern stammten aus einer Linie von Hausmeiern - durch den Papst bestätigen ließen. Die lateinische und christliche Version der antiken Kultur übernahm jetzt endgültig die Rolle des Lehrmeisters und auch des Vermittlers der hellenistischen Kultur; die römische Reichsidee und die ihr innewohnenden Ordnungsprinzipien prägten Europa, das seit der Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahre 800 immer mehr in die Tradition des Imperium Romanum hineinwuchs.Wie weit dieser Prozess der Aneignung der Latinität ging, kann die sprachliche Entwicklung zeigen. Die spätantiken Formen des Vulgärlateins verdrängten allmählich die keltische Sprache, die sich schließlich nur noch in wenigen abgeschiedenen Gebieten - der Bretagne, Irland, Wales und Schottland - zu halten vermochte. Bis etwa zur ersten Jahrtausendwende entstanden die regionalen Ausprägungen der romanischen Sprachen. Die germanischen und slawischen Sprachen konnten sich zumindest als Volkssprachen behaupten. Das Medium des gebildeten, literarischen und auch amtlichen Ausdrucks blieb aber bis in die Neuzeit hinein das Mittellatein, das aus der spätantiken Hochsprache gewachsene Latein der Gebildeten des Mittelalters, das somit »seine« Gedanken, Probleme und Aktivitäten mittels einer übernommenen Fremdsprache ausdrückte.Das europäische Mittelalter umfasst einen Zeitraum von rund tausend Jahren; es reicht etwa von der Völkerwanderung oder dem Ende des weströmischen Reichs (476) bis zur Entdeckung Amerikas (1492) oder zur Reformation (ab 1517). Es hat sich eingebürgert, die ersten 500 Jahre, also bis etwa zur ersten Jahrtausendwende, als Frühmittelalter zu bezeichnen. In dieser Zeit bildeten sich immer größere politische Gebilde aus, bis hin zum Reich Karls des Großen und zum Heiligen Römischen Reich. Diese Reiche, seine Repräsentanten und seine Untergliederungen waren zugleich sakral verstandene Größen; sie standen in enger Gemeinschaft wie auch in Polarität zur Kirche, die umgekehrt - wie etwa die als Landsherren regierenden Bischöfe - auch politische Funktionen wahrnahm.Zahlreiche Klöster wurden gegründet, die zugleich Orte der Spiritualität, Vermittler landwirtschaftlicher und handwerklicher Fähigkeiten und Stätten sprachlicher wie philosophischer und theologischer Bildung waren. Daneben bildete sich eine Bistumsstruktur aus, die in Anpassung an die agrarischen Verhältnisse aus größeren räumlichen Einheiten bestand; auch die Bischofssitze wurden Zentren kirchlicher, kultureller und oft auch politischer Aktivitäten. Die meisten Klöster übernahmen mit der Zeit die Regel des Benedikt, die »beten und arbeiten« zum Programm der Mönche erhob und jedes Kloster als selbstständige Einheit verstand. Daneben war auch die Regel des Augustinus verbreitet, nach der sich oft die Kleriker an den Kathedralkirchen organisierten. Aufgrund dieser Faktoren nahm das »Abendland« bis zum Ende des Frühmittelalters immer mehr universalistische Züge an: Papst und Kaiser waren die politischen Brennpunkte, das sprachlich und theologisch lateinische Christentum überwand ethnische und regionale Begrenzungen, seit dem 10. Jahrhundert genügte auch die bisherige klösterliche Autarkie nicht mehr: Ausgehend etwa von Cluny oder Gorze, schlossen sich Klöster zu Kongregationen zusammen.Weite Teile Europas waren allerdings noch heidnisch: Magyaren durchstreiften Mitteleuropa, bis sie 955 in der Schlacht auf dem Lechfeld besiegt wurden, Normannen plünderten die Küsten und Flusslandschaften bis weit nach Russland hinein. Doch auch die kirchliche Einheit der Christen war bedroht, da sich die griechische und die lateinische Christenheit allmählich voneinander entfremdeten. Als im östlichen Bilderstreit die dortigen Machthaber jegliche Verehrung von religiösen Bildern untersagten, distanzierten sich die Päpste in Rom von diesem Verbot. Daraufhin beschlagnahmte 732 der byzantinische Kaiser Unteritalien und Sizilien, wodurch er das Papsttum dazu brachte, sich an das Fränkische Reich anzulehnen. 867 kam es zu einer ersten förmlichen Kirchenspaltung. Obwohl dieses Schisma noch im gleichen Jahr wieder aufgehoben wurde, war die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten: Am 16. Juli 1054 legte der päpstliche Gesandte die Bannbulle auf dem Altar der Hagia Sophia nieder. Alle späteren, durch das Vordringen der Türken erzwungenen Unionsversuche scheiterten, 1453 wurde Konstantinopel von den Muslimen erobert.Im Hochmittelalter, das etwa bis 1300 währte, fand die universale Ausprägung zur höchsten, wenn auch spannungsreichen Gestalt. Reformbewegungen im Mönchtum führten zu immer zentraler konzipierten Orden - von den Zisterziensern bis hin zu den Bettelorden, bei denen einzelne Klöster keine Rolle mehr spielten. Seit dem 11. Jahrhundert erlebte Europa einen starken Bevölkerungszuwachs, der zu einer Urbanisierungsbewegung und zu expansiven Aktivitäten führte. Das Papsttum, vor allem unter Gregor VII., versuchte eine moralische Erneuerung der Kirche aus dem Geist mönchisch-asketischer Ideale; die Bestrebungen der »gregorianischen Reform« gipfelten in der Forderung nach einer »Freiheit der Kirche« von staatlichen Einflüssen, von »Simonie«, das heißt der Käuflichkeit kirchlicher Ämter, und von »Nikolaitismus«, der Praxis der Priesterehe. 1075 verbot Gregor auf einer römischen Fastensynode die Laieninvestitur, die Übertragung kirchlicher Ämter durch Laien. Kaiser Heinrich IV. ließ den Papst auf der Reichssynode in Worms 1076 absetzen und wurde daraufhin von diesem exkommuniziert. Erst nach seinem »Gang nach Canossa« 1077 wurde Heinrich von Gregor wieder vom Bann gelöst. Was wie ein Sieg des Papsttums im »Investiturstreit« aussah, führte in Wirklichkeit mit der Zeit zur gedanklichen Unterscheidung, Trennung und damit Emanzipation des Staates von der Kirche.1095 rief Papst Urban II. auf der Synode von Clermont die Christenheit zur Hilfeleistung für den von den türkischen Seldschuken bedrängten byzantinischen Kaiser, zum »heiligen Krieg« gegen den Islam auf: In den bis zum Ende des 13. Jahrhunderts unternommenen Kreuzzügen wurden »gesamteuropäische« Maßnahmen gegen das Vordringen des Islam und für die politische Herrschaft im Heiligen Land in Gang gesetzt, wenn auch im Laufe der Zeit unterschiedliche »nationale« Interessen in den Vordergrund traten. Der dem Christentum ursprünglich fremde Gedanke eines Krieges für die Zwecke der eigenen Religion hatte sich seit der »Konstantinischen Wende« beziehungsweise seit den Sachsenkriegen Karls des Großen entwickelt, war aber wohl auch durch das muslimische Beispiel des Djihad angestoßen. Seine Durchführung wurde ermöglicht durch die Entstehung eines abendländischen Kriegerstandes, des Rittertums, und war wohl auch motiviert durch ein neues Interesse für die geschichtlichen Grundlagen des Christentums und für Palästina, wohin christliche Pilger schon seit dem 4. Jahrhundert Wallfahrten unternahmen. Ihr Ziel - die Herrschaft über das Heilige Land - erreichten die Kreuzzüge nur vorübergehend; sie verhinderten aber zunächst ein weiteres Vordringen des Islam und brachten eine gesellschaftliche Entspannung. Im Zuge dieser Ereignisse wurde auch die Reconquista in Spanien, das sich seit 711 in islamischer Hand befand, verstärkt: Am Ende des 13. Jahrhunderts konnten die Mauren nur noch Granada behaupten, das 1492 als letzter muslimischer Besitz von den christlichen Königreichen zurückerobert wurde. Im 12. Jahrhundert wurde in den »Wendenkreuzzügen« das christliche Gebiet in den Nordosten Deutschlands und im 13. Jahrhundert, durch den Deutschen Orden, einen der neu entstandenen Ritterorden, nach Ostpreußen ausgedehnt.Aber auch vermeintliche »innere Feinde« dienten nun als Zielscheibe von Angriffen, unter denen vor allem die jüdischen Bevölkerungsteile zu leiden hatten, bald aber auch die Ketzerbewegungen: Seit dem 12. Jahrhundert fanden die reiche Kirche und ihre feudale Struktur und Seelsorge zunehmend Kritik in der armen Bevölkerung der wachsenden Städte. Gefordert wurde eine radikale Nachfolge des armen Jesus, ein Zugang der Laien zur Heiligen Schrift und zur Predigt sowie neue Formen christlichen Zusammenlebens. Während die Katharer oder die Albigenser wohl selbst häretisches Gedankengut einbrachten, bildeten etwa die Waldenser ursprünglich eine Reformbewegung, die erst durch die kirchliche Ablehnung von deren Dogmen abzuweichen begann. Um die vor allem in Oberitalien und Südfrankreich erfolgreichen Bewegungen einzudämmen, richtete Innozenz III., der wohl mächtigste Papst des Mittelalters, auf dem Vierten Laterankonzil 1215 die Inquisition ein: Bald wurden die entsprechenden Gebiete mit Ketzerprozessen überzogen, Scheiterhaufen brannten, Feldzüge brachen organisierten Widerstand.Im Spätmittelalter zeigten sich die schon früher wahrzunehmenden Spannungen und Risse deutlicher. Die Überspitzung des universalen Führungsanspruchs durch Papst Bonifaz VIII. löste nationale Gegenkräfte aus. Vor allem Frankreich unter König Philipp IV. leistete Widerstand: 1305 wählte die französische »Partei« unter den Kardinälen den Bischof von Bordeaux als Klemens V. zum Papst, der 1309 seinen Hof nach Avignon in Südfrankreich verlegte. Im »Exil von Avignon« regierten die Päpste bis zu ihrer Rückkehr nach Rom 1376. 1324 verfasste der Pariser Philosophieprofessor Marsilius von Padua eine Streitschrift gegen den Papst, in der er die Oberhoheit des Staates über die Kirche lehrte und den Gedanken der Volkssouveränität formulierte; Ludwig IV., der Bayer, nahm ihn mit nach Rom, wo sich Ludwig 1328 vom Stadtpräfekten, einem Laien, »im Namen des römisches Volkes« zum Kaiser krönen ließ. 1378 distanzierten sich französische Kardinäle vom gerade neu gewählten Papst Urban VI. und wählten in Avignon Klemens VII., einen Vetter des französischen Königs, zum Gegenpapst. Dieses Abendländische Schisma, das Nebeneinander zweier (nach der Wahl Alexanders V. sogar dreier) Päpste, wurde 1417 vom Konzil zu Konstanz beendet.Während die Könige Westeuropas im Spätmittelalter ihre Länder zu Flächenherrschaftsstaaten ausbauten, blieb das Heilige Römische Reich bis zu seinem Ende im Jahre 1806 den archaischeren Formen des Personenverbandsstaats verhaftet; der »moderne« Staat wurde hier nicht von der königlichen Gewalt, sondern - ähnlich wie in Italien - von den fürstlichen Herrschaften in ihren jeweiligen Territorien ausgebildet. Seit der Doppelwahl von 1198 hatte sich im Reich zudem der Gedanke der freien Königswahl durchgesetzt, wobei es einer Gruppe von Fürsten, den sieben Kurfürsten, gelungen war, das Wahlrecht an sich zu ziehen. Da sich ihr Wahlverhalten bevorzugt an machtpolitischen Vorstellungen orientierte, folgten nach den Staufern zunächst Könige aus wechselnden Dynastien einander im Amt nach, bevor im 15. Jahrhundert die Habsburger auf den Thron gelangten. England und Frankreich wurden im 14. und 15. Jahrhundert vom Hundertjährigen Krieg, von sozialen Unruhen und von Auseinandersetzungen des Hochadels - den Thronwirren der Rosenkriege und dem Ringen mit dem Herzogtum Burgund - erschüttert; diese kündigten am Ende des feudalistischen Zeitalters einen umfassenden Strukturwandel an, mit dem in diesen beiden Ländern die beginnende Ausformung des neuzeitlichen souveränen monarchischen Staates und der Zusammenschluss der politischen Stände einherging.Das sich bildende Abendland ging bei der christlich-lateinischen Spätantike »in die Schule«. Alles Lernen begann mit der Aneignung des Lateinischen, was zunächst nur an den wenigen Klöstern und Kathedralen, später auch an Pfarrschulen möglich war. Der Elementarunterricht begann in der Regel im Alter von sieben Jahren und erfolgte in engem Anschluss an die Liturgie und ihre Texte. Für die weitere Ausbildung folgte man dem antiken Muster der Gliederung der Artes liberales, der Sieben Freien Künste: Im »Trivium« wurde (lateinische) Grammatik, Dialektik und Rhetorik gelehrt, im anschließenden »Quadrivium« Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Einen Aufschwung nahmen Schulwesen und Bildung mit der karolingischen Renaissance. Am Ende des 12. Jahrhunderts entstanden an manchen Orten - zunächst in Paris und Bologna - Universitäten; die erste »deutsche« Universitätsgründung war Prag 1348, gefolgt von Wien 1365, Heidelberg 1385 und Köln 1388. Autonomie und »akademische Freiheit« sicherten sich die Universitäten durch Privilegien und weit reichende Selbstverwaltung. In der Regel umfassten sie die vier klassischen Fakultäten der Philosophie, der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin; die Lehrstühle wurden vor allem von Dominikaner- und Franziskanertheologen eingenommen, deren Mobilität ihren Einsatz zwischen Neapel, Paris und Oxford begünstigte.Wegen des weit verbreiteten Analphabetismus waren Wissenschaft und Theologie eine Sache der Schulen, weshalb jene auch als »Scholastik« bezeichnet werden. Außerschulische literarische und theologische Aktivitäten wurden erst möglich, als weitere Kreise an der Bildung teilhatten: der Adel, an dessen Höfen Minnesang und Lyrik gepflegt wurden, und das neu entstandene Bürgertum der Städte. Das antike Bildungsgut wurde vor allem in den Klöstern bewahrt, immer neu abgeschrieben, gelesen und gelehrt. Allerdings war nach den Wirren der Völkerwanderung ein großer Teil der antiken Literatur verloren gegangen und so die Ausstattung der Bibliotheken sehr karg. Die Eliten des Mittelalters waren zutiefst vom Platonismus und vor allem vom christlichen Neuplatonismus der Spätantike beeinflusst; die eigentliche Realität wurde in einer geistigen Welt der Ideen gesehen. Das dem islamisch-jüdischen Kulturkreis zu verdankende Bekanntwerden der Schriften des Aristoteles brachte seit dem 12. Jahrhundert eine epochale Wende: Die Wirklichkeit wurde jetzt in den empirischen Dingen gesucht. Im Gefolge entstand ein neues Interesse an der Natur, deren Abläufe jetzt durch Beobachtung erkannt werden sollen: Die Entstehung der Naturwissenschaften kündigte sich an.In einer ersten Phase ging es zunächst darum, sich das überlieferte Wissen, das ja zugleich in seiner christlichen Prägung mit dem Anspruch auftrat, den göttlich geoffenbarten Glauben zu repräsentieren, so weit wie möglich mit den Mitteln des eigenen Verstandes anzueignen. Diese eher »rezeptive« Tätigkeit führte allerdings schon in der karolingischen Zeit zu ersten selbstständigen theologisch-philosophischen Versuchen und bei Johannes Scotus Eriugena zu einem Entwurf, der den besten antiken Vorgaben ebenbürtig war. Die wachsende Beherrschung des kulturellen Erbes wie auch die Kenntnis der christlichen Tradition brachte im Hochmittelalter großartige, zunächst noch ein wenig ungelenke, bald aber meisterliche Synthesen von Glaube und Wissen hervor, als deren architektonische Entsprechung die gotischen Kathedralen angesehen werden können. Das Spätmittelalter schließlich war sich der Übereinstimmung von Glaube und Wissen nicht mehr sicher. Die Philosophie begann jetzt, sich von der Theologie und ihren Vorgaben zu lösen und zu zweifeln, ob sie mit ihren Allgemeinbegriffen noch die Wirklichkeit erreiche oder ob die Begriffe bloße Wörter oder Laute sind. Die Theologie schließlich verzichtete auf die spekulative Durchdringung der Glaubenssätze; sie beschränkte sich auf die Erörterung ihrer logischen Stimmigkeit oder auf die Heilige Schrift als Sammlung praktischer Anweisungen. Bisherige Bindungen lösten sich auf: Die Philosophie trennte sich von der Theologie, theologische Praxis von Spekulation, Naturwissenschaft von theologischer Vorgabe. Bisher in einer höheren Einheit aufgehobene Komponenten verselbstständigten sich: die Nationen und Könige gegenüber Reich und Kaiser, regionale Ausprägungen des Christentums gegenüber der universalen Kirche, Gesellschaft von Religion, der Einzelne vom Kollektiv. In der Unsicherheit, die durch die schwindende Faszination tradierter Gewissheiten entstand, gewann die im ganzen Mittelalter hoch geschätzte »heidnische« Antike eine neue Bedeutung: In Humanismus und Renaissance der frühen Neuzeit wurden sie zu gewissermaßen kanonischen Orientierungen bei der Suche nach einem festen Grund.Prof. Dr. Karl-Heinz OhligBoockmann, Hartmut: Einführung in die Geschichte des Mittelalters. München 61996.Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main u. a. 141995.Europäische Technik im Mittelalter, 800 bis 1400. Tradition und Innovation. Ein Handbuch, herausgegeben von Lindgren, Uta. Berlin 21997.Fuhrmann, Horst: Einladung ins Mittelalter. München 41989.Geschichte des Christentums, herausgegeben von McManners, John.Aus dem Englischen. Frankfurt am Main u. a. 1993.Seibt, Ferdinand: Glanz und Elend des Mittelalters. Eine endliche Geschichte. Taschenbuchausgabe München 1991.
Universal-Lexikon. 2012.